Archäologie des Dschihad
Am 13. Juli 2015 war der 100. Jahrestag der Eröffnung des ersten formalen Moscheebaus in Deutschland. Dieser stand im sog. Halbmondlager, einem Kriegsgefangenenlager aus dem Ersten Weltkrieg, in dem speziell moslemische Kriegsgefangene Englands, Frankreichs und Russlands zusammengeführt worden waren. Das Lager befand sich in Wünsdorf, ca. 40 km südlich von Berlin. Diese Moschee wurde im Jahre 1925, da baufällig, wieder abgerissen. Das Gelände wurde in der NS‐Zeit und später durch die sowjetischen Besatzungskräfte weiter militärisch genutzt, bis es nach der Wiedervereinigung öffentliches Land wurde und bis heute blieb. Derzeit ist von dem ehemaligen Kriegsgefangenenlager nichts mehr zu sehen, da sich dort nunmehr eine Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Brandenburg für Flüchtlinge befindet. Generelle Erfahrungen mit der Archäologie des 20. Jahrhunderts ließen an diesem Ort dennoch materielle Reste des Lagers vermuten.
Das Pilotprojekt der Ausgrabung im Gelände des Halbmondlagers/Moschee Wünsdorf des Instituts für Vorderasiatische Archäologie der Freien Universität Berlin (FUB) in Kooperation mit dem Berliner Antike-Kolleg (BAK) hatte drei Gründe:
- Erstens wurde die Kulturerbe-Dimension des Ortes in ihrer Komplexität durch eine praktische Auseinandersetzung mit diesem Erbe in Form einer Ausgrabung untersucht.
- Zweitens ging es darum, wieweit die Archäologie als eine für spezifische temporale Gegebenheiten einer tiefen Vergangenheit entwickelte Disziplin in der Lage ist, mit neuzeitlichen Befunden umzugehen, und was eventuelle Erkenntnisgewinne sein könnten.
- Drittens schließlich hat der Ort des Halbmondlagers eine wissenschaftshistorisch komplexe Stellung, da man die dort untergebrachten Kriegsgefangenen als „Labor“ für ethnographische, biologisch-rassistische, linguistische, musik-ethnologische und andere pseudo-wissenschaftliche und wissenschaftliche Zwecke verwendete.
Die Grabungen erbrachten Einzelheiten, die im Zusammenhang mit den Grabungen der Firmen ABD Dressler und Archäologie Wiegmann auf das Kriegsgefangenenlager aus dem 1. Weltkrieg verweisen.
Ausgrabungen an Orten des 20. Jahrhunderts führten dazu, sich mit der in Akten, Artikeln wie einer genauen Baubeschreibung der Moschee und der in vielen Postkarten dokumentierten Materialität des Lagers intensiver auseinanderzusetzen. Das genaue Lesen von Fotografien und deren Verbindung mit vorhandenen Plänen sowie archäologischen Resten stellte ein wichtiges Anliegen einer Archäologie der Neuzeit dar. Das sog. "Lautarchiv" der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) stammt großenteils aus dem Halbmondlager in Wünsdorf. Eine Fotoanalyse erlaubte, bestimmte Baracken als Aufnahmeorte zu identifizieren und im Lager grob zu verorten.
Grundlegend bleibt für diese Art der Herangehensweise an Materialität – ob antik oder modern – etwas anderes: die Verankerung solcher epistemischer Netzwerke an einem spezifischen Ort samt seiner diachronen Entwicklung